Linksextremismus-Prozess in Dresden Der »Schlüsselmoment« der Lina E.

Lina E. soll als Kommandoführerin Neonazis überfallen haben. Vor Gericht erzählte sie nun aus ihrem Leben als Studentin und Sozialpädagogin. Den entscheidenden Fragen des Richters weicht sie aus.

 

Die Frage des Richters nach der RAF kommt ganz beiläufig daher. Es geht um einen Roman, der bei Lina E. gefunden wurde. »In seiner frühen Kindheit ein Garten« ist der Titel. »Hat Sie das Buch beeindruckt?«, fragt der Richter in einem Ton, der so klingt, als wolle er mit der Angeklagten über das Werk des Schriftstellers Christoph Hein plaudern. Lina E. lacht. Sie durchschaut seinen Versuch.

Der Roman ist angelehnt an den Fall des RAF-Terroristen Wolfgang Grams, der sich während eines Polizeieinsatzes am Bahnhof Bad Kleinen erschoss. Der Autor thematisiert in seiner Geschichte Zweifel an dem Suizid. Der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenats am Oberlandesgericht Dresden, Hans Schlüter-Staats, spricht das Wort »RAF« nicht aus. Er fragt nur, ob »das Buch« sie beeindruckt habe.

Lina E. antwortet zunächst mit einem Lächeln. »Das haben wir in der Schule gelesen«, sagt sie. Welche Wirkung das Buch damals auf sie hatte, könne sie heute gar nicht mehr sagen. »Das weiß ich nicht mehr.« Dann lacht sie auf – und der Versuch des Richters, mit einer mutmaßlichen Linksextremistin über die RAF zu sprechen, ist gescheitert.

Sie soll bei mindestens zwei Angriffen das Kommando geführt haben

Seit mehr als einem Jahr muss sich Lina E. gemeinsam mit drei Mitangeklagten vor Gericht verantworten. Der 27-Jährigen wird die Bildung einer linksextremen kriminellen Vereinigung vorgeworfen, die zwischen Oktober 2018 und Februar 2020 sechs Angriffe auf vermeintliche und tatsächliche Neonazis verübt und 13 Menschen zum Teil schwer verletzt haben soll. Lina E. soll bei mindestens zwei Angriffen das Kommando geführt haben und auch an der Auswahl und Ausspähung der Opfer beteiligt gewesen sein. 71 Verhandlungstage lang hat sie im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Dresden geschwiegen. Am 72. Prozesstag ist nun erstmals ihre Stimme zu hören.

Fast eine Stunde lang spricht Lina E. am Donnerstag über ihr Leben. Über die Anklagevorwürfe spricht sie nicht. Üblicherweise verlesen Verteidiger im Namen ihrer Mandanten vorgefertigte Erklärungen. Lina E. aber spricht selbst. Leicht falle es ihr nicht, sagt sie. »Das ist für mich schon eine große Sache.« Doch ihre Nervosität ist ihr kaum anzumerken.

Mit ruhiger, fester Stimme skizziert sie ihre Kindheit und Jugend in Kassel: Ihre Mutter ist Sozialpädagogin, ihr Vater Oberstudienrat an einer Berufsschule. Die Eltern trennten sich, als ihre Tochter im Grundschulalter war. 2013 machte Lina E. das Abitur. Danach jobbte sie in einem Hotel auf Teneriffa und reiste fünf Monate lang durch Südostasien. 2014 zog sie nach Leipzig und begann, in Halle an der Saale Erziehungswissenschaften zu studieren. 2018 hat sie ihren Bachelor gemacht, seither darf sie sich staatlich anerkannte Sozialpädagogin nennen. 2019 begann sie mit dem Masterstudiengang. Ihr Studium ruht, seit sie vor bald zwei Jahren verhaftet wurde.

Dass ihr die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen liegt, habe sie früh gemerkt, sagt sie. Schon während der Schulzeit arbeitete sie als Praktikantin mit geistig und körperlich eingeschränkten Kindern. Während des Studiums betreute sie Jugendliche in einer Wohngruppe, später Kinder, die Missbrauch und Vernachlässigung erfahren haben.

Ihr Verlobter ist untergetaucht

Je länger Lina E. redet, umso schwerer fällt es, sich vorzustellen, dass diese junge Frau mit Sturmhaube über dem Kopf Teil eines brutalen Überfallkommandos gewesen sein soll. Freundlich beantwortet sie die Fragen des Gerichts. Der Bundesanwaltschaft hingegen verweigert sie die Antworten. Und auch über ihre Beziehung zu Johann G. will sie nicht sprechen. Ihr Verlobter gilt den Behörden als linksextremer Gefährder. Im Juni 2020 ist er untergetaucht. Lina E. spricht lieber über ihre Arbeit als Pädagogin.

Sie berichtet von einer Jugendlichen, die sie betreut habe: Das Mädchen lebte in einer Wohngruppe und habe sich eines Tages mit Glasscherben selbst verletzt. Blutend habe die Jugendliche vor ihr gestanden, in ihrem Mund eine Scherbe. Es sei ihr gelungen, so Lina E., das Mädchen davon abzuhalten, die Scherbe zu schlucken. Lina E. sagt, damals habe sie erkannt, dass sie Kindern und Jugendlichen wirklich helfen könne. Sie nennt es einen »Schlüsselmoment«. Von »Schlüsselmomenten« anderer Art spricht sie nicht.

Lina E. war 16 Jahre alt, als sich der »Nationalsozialistische Untergrund (NSU)« im November 2011 selbst enttarnte und die Welt davon erfuhr, dass Neonazis jahrelang mordend und Bomben legend durch Deutschland zogen. Die Rechtsterroristen töteten im April 2006 auch in Kassel, der Heimatstadt von Lina E. In einem Internetcafé wurde Halit Yozgat erschossen. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes war zur Tatzeit am Tatort, den Mord will er nicht bemerkt haben. Hat der NSU-Komplex Lina E. radikalisiert? Ist sie durch die Beschäftigung mit dem Thema zu der Überzeugung gelangt, sich im Kampf gegen Rechtsextremismus nicht auf den Staat verlassen zu können, sondern Neonazis selbst mit brutaler Gewalt bekämpfen zu müssen?

Ihre Bachelorarbeit befasst sich mit dem NSU

Der Vorsitzende Richter versucht immer wieder, die Angeklagte in ein Gespräch über politische Themen zu verwickeln. Er versucht es über ihre Bachelorarbeit, die sie 2018 verfasst hat. Der Titel lautet: »Zum Umgang mit Neonazismus in der Jugendarbeit – der NSU im Jugendklub Winzerla«. Die NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten sich in dem Jugendklub in Jena-Winzerla kennengelernt. Mundlos und Böhnhardt traten dort unverhohlen als Neonazis auf. Die Jugendarbeiter ließen sie gewähren, es war Teil des Konzepts ihrer sogenannten akzeptierenden Jugendarbeit.

Lina E. kritisiert in ihrer Arbeit, dass die rechte Szene den Jugendklub vereinnahmen und für ihre politischen Ziele nutzen konnte. Die Radikalität der Jugendlichen sei von den Sozialarbeitern verharmlost oder gar nicht erst erkannt worden. Vor Gericht bleibt sie abstrakter. »In Winzerla wurden jegliche rote Linien überschritten«, sagt sie nur.

Der Richter fragt, wie sie auf das Thema gekommen ist. Die Angeklagte antwortet ihm als Pädagogin, nicht als Linksextremistin. Lina E. sagt, sie habe sich im Studium mit dem Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit befasst. Und als sie »privat« das Buch »Heimatschutz« von Stefan Aust und Dirk Laabs über die Entstehung des NSU gelesen habe, habe sie vom Jugendklub in Winzerla erfahren. Sie habe verstehen wollen, was damals in der pädagogischen Arbeit mit Neonazis schiefgelaufen sei, »um Schlüsse für die zukünftige Arbeit zu ziehen«. Welche Schlüsse sie zog, fragt der Richter nicht.

Am 20. September 2018 gab Lina E. ihre Bachelorarbeit ab. Laut Anklage soll sie zwölf Tage später zusammen mit anderen den früheren NPD-Stadtrat Enrico B. vor seinem Haus in Leipzig brutal überfallen haben. Der Neonazi erlitt Gesichtsverletzungen und einen Bruch der Kniescheibe.

Von Wiebke Ramm, Dresden
21.10.2022, 18.18 Uhr
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/dresden-was-die-mutmassliche-linksextremistin-lina-e-ueber-ihr-leben-erzaehlt-a-4e75fb1a-05ee-4abd-9335-0c795f6ca0c1